Weihnachtsgeschichte

Die Weihnachtsgeschichte ist im Wahlfach Schreibatelier entstanden und an unserem Adventsanlass vom 8. Dezember bereits vorgetragen worden. Zwei Versionen für ein Ende der Geschichte wurden an Weihnachten hier veröffentlicht.

christmas

Sie

Wenn sie nach Hause kommt, macht sie sich zuerst eine Gurkenmaske. Doch die eigentliche Maske ist das Gesicht darunter; das Gesicht einer glücklichen jungen Frau. Doch das weiss niemand, höchstens Patrick Swayze, ihr Goldfisch. Dieser versteckt sich wieder mal in seinem pinkfarbenen Unterwasserschloss, aber kommt hungrig hervor, sobald sie einige Flocken Fischfutter ins Wasser fallen lässt. Auch sie hat Hunger. Auf ihrem Yoga Ball sitzend verspeist sie einige Falafel. Vegan und Glutenfrei, natürlich. Im Radio in der Küche laufen Weihnachtslieder.

Ihr Blick schweift durch ihre bescheidene Wohnung. Vom bunten Teppich im Eingangsbereich über das grüne Polstersofa in der Ecke zur pinkfarbenen Yogamatte unter ihren Füssen. Die dunkle Kommode, in deren Schublade leere Bilderrahmen liegen. Das Regal mit den Blumenduftkerzen. Der kleine Weihnachtsbaum vor dem Fenster, darunter einige Geschenke. Sie weiss, was in jedem Geschenk verpackt ist. Sie weiss auch, dass ihr Goldfisch mehr Geschenke kriegt als sie selbst.

Fish_bowl

Ihre Gedanken wandern unfreiwillig zur Arbeit. Wenn Leute sie fragen, was sie arbeitet, was selten genug vorkommt, sagt sie immer, dass sie als Content Creator bei einem Online Lifestyle Magazin arbeitet. Ist zwar die Wahrheit, aber tönt besser als das, was sie wirklich macht. Sechs Jahre Journalismus-Studium, und irgendwie führten diese zum Titel ihres heutigen Artikels: „Kim Kardashian: Schwanger oder nicht? Die Antwort wird Sie erstaunen!“.  Pulitzerpreis-verdächtig. Und das heute, an Heiligabend.

Das Klingeln des Telefons reisst sie aus ihren Gedanken. Sie hat fast vergessen, dass sie einen Festnetzanschluss hatte. Niemand braucht diese heutzutage. Sie nimmt den Hörer ab, und am anderen Ende der Leitung ist ein Marketing Typ. Naja, sie hat nichts besseres vor, also hört sie ihm zu. Er tut ihr leid, sie weiss ja selbst wie es ist, an Heiligabend zu arbeiten. Und der Mann hat eine angenehme Stimme.

Er

Der Wähl-Ton tutet durch sein Headset. Er wartet. Schon wieder nimmt keiner ab, na toll. Liste eine Nummer kürzer, wow, super. Ausdruck der vollkommenen Glückseligkeit. Nächste Nummer. Der Wähl-Ton tutet durch sein Headset. Er wartet. Ihr Kinderlein kommet und frohlocket ungläubigst, denn es nimmt tatsächlich jemand ab. Und bleibt am Apparat, auch nachdem er gesagt hat, dass es um Marktforschung geht. Was nicht ganz die Wahrheit ist, denn eigentlicher Zweck des Anrufs ist es, zu erforschen, ob die Person am anderen Ende der Leitung dumm genug ist, den Marktwert irgendeines Hochglanzmagazins zu steigern. Aber er sagt, es geht um Marktforschung. So steht es in seinem Skript. Er hält sich heute minutiös daran. Wer möchte denn schon aus dem prestige- und Einkommenstriefenden Job als Telemarketer geschmissen werden, an Heiligabend?

Callcentre

Nicht dass irgendetwas besonders wäre am heutigen Tag, geschweige denn etwas „heiliges“ am Abend. Weihnachten ist Kauflust, die einem eingetrichtert wird von klein auf. Damit man auch zum braven Konsumenten wird. Zeugs macht glücklich! Kauft noch mehr Zeugs! Ertrinkt im Glück vor lauter Zeugs! Und jetzt machen sie auch bei uns Black Friday, obwohl wir nicht mal Thanksgiving feiern. Aber es muss ja keinen Sinn machen, solange die Kasse klingelt. Deshalb arbeitet er ja auch hier. Nicht dass der Job Sinn machen würde, oder dass er vor seinem Soziologiestudium von der Arbeit im Call Center geträumt hätte. Aber die Kasse muss auch bei ihm klingeln. Von irgendwas muss man ja leben.
Die Frau am Telefon hat eine angenehme Stimme. Sie wolle nichts kaufen, meint sie. Aber sie ist immer noch am Apparat, obwohl er sein Skript runtergeleiert und eigentlich nichts mehr zu sagen hat. Er sollte auflegen und die nächste Nummer auf der Liste wählen.

Sie können nun unten zwei Varianten für ein Ende der Geschichte sehen: romantisch oder tragisch.

Wir – Romantisch

Sie erkennt ihn im ersten Augenblick. Eine solche Aura hat sie noch nie gesehen. Vielleicht liegt es auch am orangen Schimmer der Laterne, aber trotzdem ist ihr klar, dass sie jemand besonderem gegenübersteht. Seine Bereitschaft, sich mit ihr zu treffen trägt sicher auch zu ihrem Eindruck bei, denn das kommt selten genug vor.
Sie beschliesst sogleich, ihn ohne Aufschub direkt in ihr Leben zu integrieren und ihn sofort zu sich nach Hause zu nehmen. Schliesslich muss er so schnell als möglich Patrick Swayze den Goldfisch kennen lernen. Sie ist sich sicher, dass dieser Mensch ihr persönliches Weihnachtsgeschenk vom Universum ist. Dick eingepackt in Mantel und Schal machen sie sich auf den Weg.
Er ist erstaunlich gut gelaunt. Plötzlich findet er Gefallen an Weihnachten: Die kitschigen Lieder machen Sinn, und er ertappt sich beim Gedanken daran, dass er sich gerne Glöckchen um die Knöchel binden würde, die bei jedem Schritt klingeln könnten. Auch der Gedanke an Weihnachtsgeschenke scheint ihm nicht mehr fremd. Er möchte dieser wunderbaren Frau alles schenken, das sie braucht, um so glücklich zu werden, wie er es in diesem Moment gerade ist.
Schon in der Strasse können sie das Feuer sehen. Die Kerzen! Sie hat vergessen, die Kerzen am Baum auszumachen! Panisch rennt sie auf ihre Wohnung zu. „Mein Goldfisch! Ich muss meinen Goldfisch retten!“ ruft sie ihm zu. Er überholt sie mühelos und geht furchtlos in die Flammen. Kurze Zeit später kommt er zurück, in den Armen tatsächlich das Goldfischglas. Tränenüberströmt nimmt sie Patrick Swayze entgegen und will sich bei ihm bedanken, doch sie bringt keinen Laut über ihre Lippen.

Und das, liebe Kinder, ist die Geschichte, wie sich euer Grossvater und eure Grossmutter kennengelernt haben. Ihre Wohnung war kaputt, also ist sie bei ihm eingezogen. Und den Rest kennt ihr ja. Und deswegen feiern wir jedes Jahr nicht nur Weihnachten, sondern auch unsere Familie. Denn sie ist vor all diesen Jahren am heutigen Tag entstanden. Und nun macht schnell eure Geschenke auf! Frohe Weihnachten!

Wir – Tragisch

Sie erkennt ihn im ersten Augenblick. Eine solche Aura hat sie noch nie gesehen. Vielleicht liegt es auch am orangen Schimmer der Laterne, aber trotzdem ist ihr klar, dass sie jemand besonderem gegenübersteht. Seine Bereitschaft, sich mit ihr zu treffen trägt sicher auch zu ihrem Eindruck bei, denn das kommt selten genug vor.
Sie beschliesst sogleich, ihn ohne Aufschub direkt in ihr Leben zu integrieren und ihn sofort zu sich nach Hause zu nehmen. Schliesslich muss er so schnell als möglich Patrick Swayze, den Goldfisch, kennen lernen. Sie ist sich sicher, dass dieser Mensch ihr persönliches Weihnachtsgeschenk vom Universum ist. Dick eingepackt in Mantel und Schal machen sie sich auf den Weg.
Schon in der Strasse können sie das Feuer sehen. Die Kerzen! Sie hat vergessen, die Kerzen am Baum auszumachen! Panisch rennt sie auf ihre Wohnung zu. „Mein Goldfisch! Ich muss meinen Goldfisch retten!“ ruft sie ihm zu. Er überholt sie mühelos und geht furchtlos in die Flammen. Kurze Zeit später kommt er zurück, in den Armen tatsächlich das Goldfischglas. Tränenüberströmt nimmt sie Patrick Swayze entgegen und will sich bei ihm bedanken, als er vor ihren Augen von einem herabstürzenden Balken erschlagen wird.
Fassungslos klammert sie sich an ihr Goldfischglas, in dem zu ihrem Erstaunen zwei Fische schwimmen. Ein Teil ihres Verstandes erinnert sie an einen Artikel über „Spontane Astralkörper-Manifestation,“ den sie vor langer Zeit einmal geschrieben hat. Der neue Fisch zwinkert ihr zu und formt mit seinen Lippen die Worte „Frohe Weihnachten!“.

Die Geschichte ist im Wahlfach Schreibatelier im Kollektiv entstanden. Mitgewirkt haben Kira, Mila, Matti, Anne-Sophie, Sara Lou und J. Leuenberger